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Rückwirkende Anwendung milderen Strafgesetzes: Grundsatz kann auch auf national als verwaltungsrechtlich eingestufte Sanktion anzuwenden sein

11.08.2025

Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes erstreckt sich auf eine nach nationalem Recht als verwaltungsrechtlich eingestufte Sanktion, wenn sie im Sinne des Unionsrechts strafrechtlicher Natur ist. Er ist auch bei einer Kassationsbeschwerde anzuwenden, wenn sie Teil des gewöhnlichen Verlaufs eines Rechtsstreits ist. Das gilt laut Europäischem Gerichtshof (EuGH) unabhängig davon, ob die Entscheidung, gegen die diese Beschwerde gerichtet ist, nach nationalem Recht als rechtskräftig angesehen wird.

Auf eine Frage des Obersten Verwaltungsgerichts der Slowakei nimmt der Gerichtshof wichtige Erläuterungen zum Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes vor, der in der Charta der Grundrechte der EU (im Folgenden: Charta) verankert ist (die in allen Fällen gilt, in denen das Recht der Union von einer nationalen staatlichen Stelle durchgeführt wird).

Auch wenn dieser Grundsatz dem Bereich des Strafrechts vorbehalten ist, schließe die Einstufung einer Sanktion als verwaltungsrechtlich im nationalen Recht seine Anwendbarkeit nicht zwangsläufig aus, so der EuGH. Es sei nämlich möglich, dass nach EU-Recht und zur Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung dieses Grundsatzes eine verwaltungsrechtliche Sanktion wegen der Art der Zuwiderhandlung und des Schweregrads der Sanktion als strafrechtlich anzusehen ist.

Im Übrigen finde der Grundsatz Anwendung, solange die Verurteilung nicht rechtskräftig geworden ist. Was in diesem Zusammenhang als rechtskräftiges Urteil anzusehen ist, richte sich ebenfalls nach dem Unionsrecht. Der bloße Umstand, dass eine Verurteilung nach nationalem Recht als rechtskräftig eingestuft wird, obwohl gegen sie eine Kassationsbeschwerde eingelegt werden kann, reicht laut EuGH nicht aus, um die Anwendung dieses Grundsatzes auszuschließen.

In der Slowakei wurde gegen den Fahrer eines Betonmischfahrzeugs eine Geldbuße von 200 Euro verhängt, nachdem am 04.11.2015 festgestellt worden war, dass der Fahrtenschreiber seines Fahrzeugs nicht der obligatorischen regelmäßigen Nachprüfung unterzogen worden war. Diese Verpflichtung ergab sich damals aus dem slowakischen Recht in Verbindung mit dem Unionsrecht. Das Regionalgericht Bratislava, das vom Fahrer und der Gesellschaft BAJI Trans, zu der das Betonmischfahrzeug gehörte, angerufen wurde, bestätigte diese Geldbuße im Jahr 2019. Der Fahrer und BAJI Trans legten daraufhin Kassationsbeschwerde gegen die Entscheidung des Regionalgerichts Bratislava ein.

In der Folge wurde das Unionsrecht mit Wirkung vom 20.08.2020 dahingehend geändert, dass die Mitgliedstaaten nunmehr Fahrzeuge für die Lieferung von Transportbeton von der Verpflichtung ausnehmen können, mit einem Fahrtenschreiber ausgerüstet zu sein. Dies tat die Slowakei, während das Kassationsverfahren noch anhängig war. Der Fahrer und BAJI Trans machten daraufhin geltend, dass die im November 2015 begangenen Handlungen nicht mehr rechtswidrig seien und die Geldbuße daher aufgehoben werden müsse.

Das Oberste Verwaltungsgericht der Slowakei, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, hat den EuGH nach der Tragweite des in der Charta verankerten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes gefragt. Es macht geltend, dass nach slowakischem Recht die in Rede stehende Zuwiderhandlung als Ordnungswidrigkeit angesehen werde und die Entscheidung des Regionalgerichts Bratislava unabhängig von der Möglichkeit, ein Rechtsmittel gegen sie einzulegen, als rechtskräftig angesehen werde.

Erstens stellt der Gerichtshof fest, dass der slowakische Gesetzgeber sowohl mit seinen ursprünglichen Rechtsvorschriften als auch mit der späteren Änderung EU-Recht durchgeführt hat, sodass die Charta im vorliegenden Fall anwendbar sei. Zweitens hebt er hervor, dass der in der Charta verankerte Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes dem Bereich des Strafrechts vorbehalten bleibt. Allerdings schließe der Umstand, dass eine Sanktion im nationalen Recht als verwaltungsrechtlich eingestuft wird, die Anwendung des Grundsatzes nicht zwangsläufig aus. Um seine einheitliche Anwendung in der gesamten EU zu gewährleisten, könnten nämlich zwei andere Kriterien zur Einstufung einer solchen Sanktion als strafrechtliche Sanktion führen, und zwar die Art der Zuwiderhandlung und der Schweregrad der Sanktion.

Drittens stellt der Gerichtshof klar, dass die Anwendung des in der Charta verankerten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes voraussetzt, dass die Gesetzesänderung eine Änderung des Standpunkts des Gesetzgebers zur strafrechtlichen Qualifikation der von der betroffenen Person begangenen Handlungen oder zu der zu verhängenden Strafe widerspiegelt. Im konkreten Fall habe der slowakische Gesetzgeber tatsächlich seinen Standpunkt hinsichtlich des Willens, einen Sachverhalt wie den, der dem betreffenden Fahrer zur Last gelegt wurde, zu ahnden, geändert.

Der in der Charta verankerte Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes sei anzuwenden, so der EuGH viertens, solange keine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist. Der Umstand, dass eine Verurteilung nach nationalem Recht als rechtskräftig angesehen wird, schließe die Anwendung des Grundsatzes nicht aus. Eine Verurteilung könne für diesen Zweck nämlich nicht als rechtskräftig angesehen werden, wenn gegen sie ein ordentlicher Rechtsbehelf eingelegt werden kann, das heißt ein Rechtsbehelf, der Teil des gewöhnlichen Verlaufs eines Rechtsstreits ist und als solcher eine verfahrensrechtliche Entwicklung darstellt, mit deren Eintritt jede Partei vernünftigerweise zu rechnen hat. Dies sei bei der Kassationsbeschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht der Slowakei der Fall. Somit sei ein Kassationsgericht grundsätzlich verpflichtet, dem Täter einer Straftat, deren Sanktionierung zur Durchführung des Unionsrechts gehört, eine strafrechtliche Regelung zugutekommen zu lassen, die für diesen Täter günstig ist, selbst wenn diese Regelung nach Erlass der gerichtlichen Entscheidung, die Gegenstand der Kassationsbeschwerde ist, in Kraft getreten ist.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 01.08.2025, C-544/23

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