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Infektionsschutzgesetz: Triage-Regelungen verfassungswidrig und nichtig
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Triage-Regelungen desInfektionsschutzgesetzes (IfSG) für nichtig erklärt. Der Grund: Für diekonkreten Regelungen sei der Bund nicht zuständig.
Fachärzte im Bereich der Notfall- und Intensivmedizin, diesich in ihrer Berufsfreiheit verletzt sehen, hatten Verfassungsbeschwerdenunmittelbar gegen den neu eingeführten § 5c IfSG eingelegt. Darin regelt derBundesgesetzgeber unter anderem, anhand welcher materieller Kriterien eineEntscheidung über die Zuteilung überlebenswichtiger intensivmedizinischerBehandlungskapazitäten bei nicht ausreichenden Ressourcen – also im Fall einerso genannten Triage – zutreffen ist, soweit dieser Knappheitsfall durch eine übertragbare Krankheitjedenfalls mitverursacht ist.
Die Verfassungsbeschwerden hatten Erfolg.
§ 5c IfSG greife in den Schutzbereich der Berufsfreiheit (Artikel12 Absatz 1 Grundgesetz – GG) ein, so das BVerfG. Artikel 12 Absatz 1 GG gewährleiste,dass Ärzte in ihrer beruflichen Tätigkeit frei von fachlichen Weisungen sind,und schütze – im Rahmen therapeutischer Verantwortung – auch ihre Entscheidungüber das "Ob" und "Wie" einer Heilbehandlung. DieRegelungen des § 5c Absätze 1 bis 3 IfSG schränkten die Therapiefreiheit einund beeinträchtigten damit die Berufsausübungsfreiheit.
Der Eingriff sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt:Es fehle bereits an der formellen Verfassungsmäßigkeit. Es bestehe keineGesetzgebungskompetenz des Bundes für die angegriffenen Regelungen des § 5cAbsätze 1 bis 3 IfSG.
Der Bund könne sich hinsichtlich der konkreten Normen nichtauf die Kompetenz zur Regelung von Maßnahmen gegen übertragbare Krankheitennach Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 Var. 1 GG ("Maßnahmen gegengemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren")stützen. Dieser Kompetenztitel biete keine Grundlage für ein reinesPandemiefolgenrecht. Voraussetzung sei vielmehr eine gewisse, auf Eindämmungoder Vorbeugung bezogene Gerichtetheit der Maßnahme.
Schon der Wortlaut des Kompetenztitels spreche dafür, so dasBVerfG, dass es für die Anwendbarkeit nicht genügt, wenn eine Regelunglediglich an die Auswirkungen einer Pandemie anknüpft, ohne dass sie derEindämmung oder Vorbeugung der übertragbaren Krankheit als solcher dient.Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 GG spreche von Maßnahmen "gegen" übertragbareKrankheiten "bei" Menschen. Er bringe damit zum Ausdruck, dass sichdie Kompetenz auf Regelungen bezieht, die dazu dienen, im Bundesgebietauftretende übertragbare Krankheiten als solche einzudämmen.
Bei den Regelungen des § 5c IfSG handele es sich auch nichtum eine "Maßnahme" im Sinne des Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 GG. Nachihrer konkreten Konzeption stellten die Regelungen kein Instrument derVorbeugung oder der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten dar. Sie mindertenInfektionsrisiken nicht, sondern sagten nur aus, wie ein Arzt Patienten beinicht ausreichenden intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten priorisierenmuss. § 5c IfSG treffe im Schwerpunkt also Regelungen dazu, "wer" behandeltwerden darf, nicht jedoch zum "Wie" der Behandlung. Diese Regelungenknüpften als reines Pandemiefolgenrecht also an eine Knappheit infolge einerPandemie an, dienten aber nicht der Pandemiebekämpfung. So nenne auch derNormtext selbst als Zweck der Regelungen den Schutz vor Diskriminierung und dieRechtssicherheit für die handelnden Ärzte.
Da die Triage-Regelungenfür die Vorbeugung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten nicht unerlässlichsind, kann laut BVerfG auch nicht auf eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangsoder eine Annexkompetenz abgestellt werden.
§ 5c Absätze 1 bis 3 IfSG ließen sich auch nicht unter denTitel konkurrierender Gesetzgebung der öffentlichen Fürsorge fassen. Dieser tretehinter Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19, Nr. 19a GG als speziellerer Kompetenztitelzurück.
Zwar enthielten die Regelungen des § 5c IfSG fürsorgerischeElemente, soweit sie dem Schutz von Menschen mit Behinderung vorDiskriminierung zu dienen bestimmt sind. Für das BVerfG sprechen aber systematischeErwägungen gegen eine Eröffnung des Anwendungsbereichs des Kompetenztitels. §5c IfSG sei eine dem Gesundheitswesen zugehörige Norm, es fehle ihr an einemprimär fürsorgerechtlichen Charakter. Wenngleich die Norm auchantidiskriminierungsrechtliche Ziele verfolge, regele sie alsAllokationsvorschrift die medizinische Behandlungsreihenfolge im Fall einer Triageunddamit im Kern ärztliche Berufsausübung und krankenhausrechtlicheVerfahrenspflichten. Die Entscheidung der Verfassung, dem Bund für dasGesundheitswesen nur auf einzelne Sachbereiche beschränkteGesetzgebungskompetenzen zuzuweisen, dürfe nicht durch eine erweiterndeAuslegung der Gesetzgebungskompetenz für die öffentliche Fürsorge unterlaufenwerden.
Die angegriffenen Regelungen seien auch weder Teil desbürgerlichen Rechts noch des Strafrechts und würden daher auch nicht von denentsprechenden Gesetzgebungstiteln erfasst.
Eine Bundeskompetenz komme auch nicht kraft Natur der Sachein Betracht. Allokationsregelungen erforderten im Pandemiefall nichtnotwendigerweise eine gesamtstaatliche Regelung. Dass allein der Bund zureffektiven Beherrschung der Diskriminierungsrisiken in einer Triage-Situation in der Lage wäre,insbesondere weil den Ländern die dahingehende Handlungsfähigkeit fehlte, siehtdas BVerfG nicht. Der Umstand, dass in Fällen einer pandemischen Lage vonnationaler Tragweite eine bundeseinheitliche Regelung zweckmäßiger sein könnteals eine Selbstkoordinierung der Länder, genüge für die Annahme einer Kompetenzkraft Natur der Sache nicht. Nach der aktuellen Kompetenzverteilung des GG trügendie Länder maßgeblich die Verantwortung für diskriminierungssensibleAllokationsregeln im Sinne reiner Pandemiefolgenregelungen, die auchländerübergreifend tragfähige Entscheidungen ermöglichen müssen.
Abschließend führt das BVerfG aus, dass die Unvereinbarkeitdes § 5c Absätze 1 bis 3 IfSG mit Artikel 12 Absatz 1 GG zur Nichtigkeit dieserRegelungen führe. Die Nichtigkeitserklärung sei auf § 5c Absätze 4 bis 7 IfSGzu erstrecken, weil diese Regelungen mit der gesetzlich definiertenZuteilungsentscheidung und den hierfür vorgesehenen materiellen Kriterien inunlösbarem Zusammenhang stünden und einzig aus ihr ihre Rechtfertigung bezögen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23.09.2025, 1 BvR2284/23, 1 BvR 2285/23